150 Jahre Wilhelmsturm

von Stadthistoriker Simon Dietrich

„Eine der schönsten, vielleicht die schönste Feier, welche die Stadt Dillenburg je begangen hat.“ Mit diesen Worten beschrieb ein Berichterstatter das große Einweihungsfest des Wilhelmsturms am 29. Juni 1875. Nach dreijähriger Bauzeit und zehnjähriger Planung wurde das Oranierdenkmal an diesem Tag der Öffentlichkeit übergeben. Hunderte Gäste waren angereist, die Stadt hatte sich herausgeputzt. Doch wie war es überhaupt zum Bau des Turmes gekommen?

Eine Idee wird Realität

Eine schwarz-weiß-Aufnahme der Stadtansicht
Der Wilhelmsturm gehört seit 150 Jahren fest zum Dillenburger Stadtbild, hier eine Aufnahme von 1955 (Stadtarchiv Dillenburg; Foto: Josef Leiter).

Die erste Idee, auf den Ruinen des 1760 zerstörten Schlosses einen Turm zum Andenken an Wilhelm von Oranien zu errichten, war im Jahr 1865 formuliert worden. Damals dominierten den Schlossberg Privatgärten, in denen Obst und Gemüse angebaut wurden, zudem gab es eine Gaststätte. Eher abschreckend wirkte auf die wenigen Gäste, die sich wegen der „Wilhelmslinde“ hierhin verirrten, wohl die Nachbarschaft des „Criminal-Gefängnisses“, das im Stockhaus und der späteren Jugendherberge untergebracht war. Überall auf dem Gelände standen Mauerreste und lag Geröll herum. Noch bis ca. 1850 nutzten die Dillenburger diese historischen Hinterlassenschaften als Steinbruch.

Industrie- und Beamtenstadt

Die Stadt selbst hatte um 1865 rund 3.600 Einwohner, es herrschten also eher beschauliche Kleinstadtverhältnisse. Immerhin hatte die Industrialisierung durch den 1862 erfolgten Anschluss an die Köln-Gießener Eisenbahn einen kräftigen Schub erhalten. Fabriken wuchsen und wurden neu gegründet. Eine wichtige Rolle spielten aber vor allem die zahlreichen Behörden: Dillenburg war eine Beamtenstadt. Nicht nur für die Staatsdiener war das Jahr 1866 ein großer Einschnitt: Damals nämlich endete die Herrschaft des Hauses Nassau, das gleichnamige Herzogtum wurde von Preußen annektiert. Ein Umstand, der von vielen durchaus begrüßt wurde, versprach er doch besonders in wirtschaftlicher Hinsicht einen Aufbruch.

Zu Ehren des größten Sohnes

Zu den Initiatoren des Turmbaus zählte 1865 neben dem Kaufmann August Gail vor allem der Gymnasialdirektor August Spieß. Sie entwickelten maßgeblich die Idee, den größten Sohn der Stadt – den 1533 auf dem Schloss geborenen Wilhelm von Oranien – durch ein Turmdenkmal zu ehren. Dieses sollte ihren Überlegungen zufolge mehrere Funktionen erfüllen: Es war gleichermaßen als rekonstruierter Burgturm, als Aussichtsturm und als oranischer Erinnerungsort konzipiert, sollte zudem als Landmarke schon von Weitem Touristen nach Dillenburg locken. Die Belebung des Fremdenverkehrs zählte also von Anfang zu den Zielsetzungen der Erbauer. Eine Idee, die – wie man heute resümieren kann – voll aufging: Auch im 21. Jahrhundert noch zieht der Turm Jahr für Jahr zahlreiche Besucher an.

Niederlande maßgeblich an der Finanzierung beteiligt

Als Besonderheit darf der Wilhelmsturm allerdings aus einem anderen Grund gelten: Er war von Beginn an aufs Engste mit dem westlichen Nachbarland verbunden und hatte dadurch einen transnationalen Charakter. Während Denkmäler im Kaiserreich (1871–1918) gewöhnlicherweise einen nationalen Bezug aufwiesen, ehrte der Wilhelmsturm einen regionalen Adeligen, der in den Niederlanden zum Nationalhelden avanciert war. Auch die Finanzierung des Wilhelmsturms darf daher als äußerst ungewöhnlich gelten. Spenden für den Bau sammelte neben einem Dillenburger auch ein niederländisches Denkmalkomitee. Erfolg hatte vor allem Letzteres. Am Ende stemmten niederländische Gönner fast 80 % der Gesamtkosten (29.129 Taler)! Ein Großteil dieser Summe kam von Prinzessin Marianne der Niederlande, ohne die der Bau vermutlich niemals zustande gekommen wäre.

Imposanter Festzug zum Wilhelmsturm

Festprogramm zur Einweihung des Wilhelmsturmes
Das Programm zur Einweihungsfeier am 29. Juni 1875 (Stadtarchiv Dillenburg).

Die transnationale Ausrichtung des Wilhelmsturms zeigte sich insbesondere auch am Tag der Einweihung vor 150 Jahren. Schon am Vorabend wurden die zahlreichen niederländischen Gäste, unter anderem die dortigen Komiteemitglieder, mit Glockengeläut und Böllerschüssen am Bahnhof empfangen. Später traf dann als Vertreter des deutschen Kaisers sowie seiner Mutter, der Mäzenin Marianne, auch Prinz Albrecht von Preußen per Bahn ein. Der Festtag wurde um 6 Uhr morgens mit Choralgesang und – erneut – Böllerschüssen eingeleitet. Um 9 Uhr begann der Festgottesdienst in der Stadtkirche. Anschließend setzte sich ein imposanter Festzug durch die feierlich geschmückten Straßen in Bewegung, der nach einem anstrengenden Aufstieg in der Mittagshitze den Schlossberg erreichte.

Erste Besichtigung

Dort hielt zunächst August Spieß eine vielfach gelobte Festrede. Dann sprach er in Richtung des Turms „erhabene Worte der Weihe, das Bauwerk unter den Schutz des Allmächtigen, unter den Schirm des Kaisers und die Obhut der Stadt stellend.“ Es folgte die preußische Nationalhymne sowie das bekannte „Wilhelmus-Lied“, die spätere Nationalhymne der Niederlande. Anschließend ergriff der Vorsitzende des niederländischen Komitees, Prediger Francken aus Rotterdam, das Wort. Als er die Bedeutung des Oraniers sowie des nun geweihten Dillenburger Denkmals für sein Volk schilderte, „vibrirte (!) seine Stimme vor innerem gewaltigem Drang.“ Nach seiner Rede erklang noch die damalige „holländische Nationalhymne“, bevor schließlich die Schlüssel des Turms an den Bürgermeister übergeben wurden. Dieser öffnete die Tür und besichtigte das Oranierdenkmal zunächst mit den Ehrengästen. Erst im Anschluss durften endlich auch die normalen Besucher das neue Wahrzeichen der Stadt begutachten.

Eintrittskarte zum Festball anlässlich der Einweihung des Wilhelmsturmes
Eintrittskarte zum Festball am 29. Juni 1875 (Stadtarchiv Dillenburg).

Ein Denkmal zweier Nationen

Für die Dillenburger war das frisch eingeweihte Bauwerk ein Erinnerungsort für einen regionalen Helden, den größten Sohn ihrer Stadt, und zugleich ein willkommener Touristenmagnet. Die angereisten Niederländer verstanden den Wilhelmsturm hingegen durchaus auch als ihr eigenes, nationales Denkmal, errichtet zum „Ruhm für unsere Nation und zur Verherrlichung unserer Vorfahren.“ Eine – zumal mit Blick auf die Finanzierung des Baus – sehr nachvollziehbare Schlussfolgerung.

Ein nahezu einzigartiger Fall

Ein niederländisches Nationaldenkmal auf nassauischem Boden, initiiert und organisiert von Dillenburgern, finanziert zum Großteil von Niederländern – das dürfte ein nahezu einzigartiger Fall innerhalb der national geprägten Denkmallandschaft des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Wir sehen: Der Wilhelmsturm war in seiner Zeit etwas Besonders – und ist es auch nach 150 Jahren noch!

Mehr zur Geschichte des Wilhelmsturms

Mehr über die Geschichte des Wilhelmsturms erfahren Interessierte in der kleinen Sonderausstellung im Turm (bis Ende Oktober) oder im Podcast-Interview mit dem Stadthistoriker:

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